Die fünf klassischen Sinne in der Yogapraxis
- Nelia Erler
- 3. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit

Der Weg zur Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung – und die verborgenen Sinne, die wir dabei entdecken
Wenn wir an Yoga denken, haben viele von uns vielleicht das Bild im Kopf von jemandem, der tief atmend in einer ruhigen, fast meditativen Pose verweilt. Aber Yoga ist viel mehr als nur das physische Üben von Haltungen und Bewegungen. Es ist ein Weg, auf dem wir unseren eigenen „inneren Tempel“ erkunden – den Raum in uns, in dem wir wirklich zur Ruhe kommen können, ohne Ablenkung, ohne Lärm, und frei von dem ewigen Hin und Her des Alltags. In der Yogapraxis sind es unsere Sinne, die uns dabei als Brücke dienen: Sie helfen uns, eine Verbindung zu unserem Inneren aufzubauen und wirklich „anzukommen“.
In unserer hektischen Welt überfluten uns ständig äußere Reize: das Summen des Smartphones, der Druck, immer erreichbar zu sein, die ständige Informationsflut. Das führt oft dazu, dass wir wie im Autopilot-Modus funktionieren, ohne wirklich zu fühlen, zu schmecken oder zu hören, was um uns herum passiert – geschweige denn, was in uns selbst los ist. Yoga hilft uns, diesen Autopiloten auszuschalten und wieder ganz bewusst mit unseren Sinnen wahrzunehmen.
1. Sehen (Darshan)
Im Yoga spielt das Sehen eine besondere Rolle – und hier geht es nicht nur um das äußere Sehen, sondern um das „innere Sehen“. Wenn wir in Posen wie dem „Adho Mukha Svanasana“ (Herabschauender Hund) oder „Tadasana“ (Berghaltung) die Augen schließen, lernen wir, unsere Aufmerksamkeit nach innen zu lenken. Es geht darum, unseren Körper von innen zu spüren und wahrzunehmen, wie sich die Muskeln dehnen, wie wir atmen, wie sich die Pose anfühlt. Ein Beispiel: Wenn du die Augen schließt, während du im Krieger II (Virabhadrasana II) stehst, merkst du plötzlich, wie viel bewusster du die Kraft in deinen Beinen und die Länge in deiner Wirbelsäule wahrnimmst. Dein inneres Sehen ist erwacht.
2. Hören (Shravana)
Die Geräusche um uns herum – und in uns – können viel über unseren Zustand verraten. Im Yoga laden wir uns ein, ganz genau hinzuhören, zum Beispiel auf unseren Atem. Das Rauschen des Atems in Ujjayi-Pranayama, dem „siegreichen Atem“, hilft uns, den Geist zu beruhigen und das Bewusstsein ins Hier und Jetzt zu bringen. Wenn wir im Alltag auf diese Weise „hinhören“, können wir lernen, schneller wahrzunehmen, wann wir gestresst oder unruhig sind, und aktiv gegensteuern.
3. Riechen (Gandha)
Ein oft unterschätzter Sinn in der Yogapraxis ist der Geruchssinn. Der Duft von Räucherstäbchen oder ätherischen Ölen, die in vielen Yogaräumen eingesetzt werden, kann eine entspannende und beruhigende Wirkung haben. Unser Gehirn verbindet Düfte sehr direkt mit Emotionen. Ein einfacher Duft wie Lavendel kann uns daran erinnern, loszulassen und entspannter zu atmen. Vielleicht merkst du beim nächsten Mal im Yoga, wie ein Hauch von Sandelholz dich fast automatisch in eine tiefere Entspannung bringt.
4. Schmecken (Rasa)
Zugegeben, beim Yoga denken wir wahrscheinlich am wenigsten ans Schmecken. Doch auch das hat eine Bedeutung: Wenn wir uns beispielsweise darauf konzentrieren, unseren Atem durch die Nase zu führen und nicht durch den Mund, nehmen wir plötzlich eine subtile Wahrnehmung von Geschmack wahr. Und über diesen Weg können wir auch ein größeres Bewusstsein für unseren gesamten Körper entwickeln – das Schmecken erinnert uns daran, achtsam zu sein, in allem, was wir tun, essen und erleben.
5. Tasten (Sparsha)
Berührung ist ein zentraler Bestandteil im Yoga. Das Fühlen des Bodens unter unseren Füßen in Tadasana, das Bewusstsein für die Hände auf der Matte im herabschauenden Hund – all das bringt uns zurück in unseren Körper und erinnert uns daran, geerdet zu bleiben. Die bewusste Wahrnehmung des Tastsinns hilft uns, uns selbst besser zu spüren und Grenzen zu erkennen. Ein schönes Beispiel: Wenn du in der Taube (Kapotasana) liegst und ganz bewusst deine Hände auf den Boden legst, merkst du, wie diese einfache Berührung dir Stabilität und Ruhe gibt.
Die verborgenen Sinne: Propriozeption und Interozeption
Neben den klassischen fünf Sinnen gibt es in der Yogapraxis auch noch zwei „verborgene“ Sinne, die uns auf eine tiefere Ebene der Selbstwahrnehmung führen.
• Propriozeption: Dieser Sinn hilft uns, die Position unseres Körpers im Raum wahrzunehmen. Er ist im Yoga unglaublich wichtig, denn er gibt uns das Gefühl für Balance, Stabilität und Orientierung in jeder Pose. Stell dir vor, du schließt die Augen im Baum (Vrksasana) und spürst, wie dein Körper sich unbewusst ausbalanciert. Dieses innere Wissen, wo sich deine Körperteile befinden, ist ein Geschenk, das uns Yoga lehrt.
• Interozeption: Das ist der Sinn, der uns die Vorgänge im Inneren unseres Körpers spüren lässt – den Herzschlag, den Atem, das Bauchgefühl. Interozeption hilft uns, körperliche und emotionale Zustände wahrzunehmen. Wenn wir im Yoga bewusst in unseren Bauch atmen und spüren, wie sich das Zwerchfell hebt und senkt, trainieren wir diesen inneren Sinn. Yoga lehrt uns, auf diese subtilen Signale zu hören und sie zu verstehen.
Ein Beispiel, um es auf den Punkt zu bringen:
Stell dir vor, du liegst nach einer intensiven Yogastunde in Shavasana (Totenstellung). Deine Augen sind geschlossen, der Körper ist ganz ruhig. Du hörst deinen Atem, spürst das Gewicht deines Körpers auf der Matte, riechst vielleicht noch das Öl, das du am Anfang der Stunde verwendet hast. In diesem Moment sind all deine Sinne wach – aber gleichzeitig tief entspannt. Und dann merkst du etwas ganz Feines, ein sanftes Pochen im Brustkorb, ein Gefühl der Ruhe in deinem Bauch. Dieses Wahrnehmen jenseits der klassischen Sinne ist wie ein innerer Kompass, der dir zeigt, wie es dir wirklich geht, was du brauchst und wer du bist.
Yoga hilft uns, unsere Sinne zu schärfen und diese Brücke zu uns selbst zu finden. In einer Welt, die immer schneller und lauter wird, ist diese Fähigkeit, nach innen zu horchen, das wertvollste Geschenk, das wir uns selbst machen können.
Namaste, eure Nelia
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